
Wie soll man die Geschichte des süditalienischen Messers erzählen? Bis noch vor wenigen Jahren lagen diese alten Künste für Unbeteiligte im Verborgenen.
Es ist eine Geschichte der Verschwiegenheit, der Omertà.
Schwüre und Bünde, sowie die Angst vor Vergeltung, aber auch der Stolz einer geheimen und ritterlichen Gesellschaft anzugehören, verhinderten mitunter, das die Geheimnisse der Klinge - aber auch die des Hirtenstockes - an fremde Ohren drangen. Die Furcht Spuren zu hinterlassen, bzw, entlarvt zu werden, oder auch der Analphabetismus, der im Italien des 19. Jahrhunderts in den unteren , ländlichen Schichten wie auch im städtischen Subproletariat Süditaliens präsent war, erzeugte zudem eine Kultur der rein mündlichen Überlieferung. Und so begann meine Forschung (...) im Dunkeln.
Sie war zunächst vornehmlich von Spekulationen geprägt - von Annahmen also. Im Laufe der Jahre beschäftigte ich mich nicht nur körperlich, vielmehr auch geistig und literarisch mit dieser Subkultur meines Geburtslandes.
Ich las zudem viel Sekundärliteratur - Bücher, die mit der Thematik des Messers auf den ersten Blick wenig zu tun haben und sich eher der Geschichte, der Kunst und der Kultur Italiens widmen.
So ging ich allen Spuren und Gerüchten nach. Und das diese Suche so geheimnisvoll war, machte ihren Reiz erst aus. Es konnte aufgrund der mangelnden schriftlichen Nachweise auch nicht anders sein. Das war der we, den es zu beschreiten galt. Ich begab mich auf Reise - auf viele Reisen mittlerweile. Dabei traf ich wahre Meister und auch solche, die sich nur so nannten. Einige von ihnen begleitete ich für eine gewisse Weile. Mit anderen arbeite ich heute noch zusammen.
Dennoch ist Italien bis heute, trotz aller bisherigen Pionierleistungen zum Thema, in Sachen Kampfkunst eine terra incognita. Und ohne ein Grundverständnis für die geschichtlichen Zusammenhänge einer Epoche, für deren Kultur und Traditionen und für die Menthalität der jeweiligen Bevölkerung, entwickelt sich eine Waffenkunst zu einem seelenlosen "Etwas". Sie wird zu einem reinen Instrument des Todes und damit zu einer toten Kunst. Auch glaube ich nicht, dass ohne eine Spur kultureller Kenntnis tiefe Leidenschaft innerhalb der Kunst entstehen kann. Die italienischen Waffenkünste sind weit mehr als bloßes Fechten: Sie bestechen durch Ausdrucksstärke und Eleganz, Rhythmus und kulturelle Tiefe. Kultur und Geist können urban oder landwirtschaftlich geprägt sein. Sie sind teilweise religiös inspiriert oder entspringen Legenden und Mythen um Soldatentum beziehungsweise Ritterlichkeit. Auch wurden sie zum Teil von den süditalienischen Verbrechersyndikaten beeinflusst. Zudem beinhalten sie wiedererkennbare Muster: Je nach Region ist entweder der tänzerische Charakter ausgereifter, die Haltung stolzer oder auch geerdeter.
Aber die gemeinsamen Nenner sind stets sichtbar:
- Man bewegt sich leichtfüßig entlang eines (gedachten) Kreises und durchschreitet diesen auf Geraden oder Ellipsen.
- Man kämpft aus Garden (Fechtstellungen) und steht meist profiliert zum Gegner.
- Der geradlinige Stich, die Punkt-zu-Punkt-Verbindung, ist das zentrale technische Mittel aller Schulen und Systeme.
Die Didaktik ist meist recht klar gegliedert.Sie verläuft weitgehend in Bahnen, oder setzt sich aus diversen Lektionen, bzw, Figuren zu einer Form zusammen. Im Grunde kann die Wertigkeit dieser Entwicklungen des einfachen Volkes durchaus mit den Kunstformen einer Hochkultur verglichen werden, die im Bürgertum oder auch beim Adel beliebt waren, wie zum Beispiel dem Ballett.

Um das Wesen dieser Künste begreifen zu können, um sich des Wertes wirklich gewahr zu werden, sollte also beides bekannt sein: die geistige Ausrichtung des jeweiligen Kulturkreises und die technisch-taktischen Werkzeuge (...). Besonders der Aspekt der Ritterlichkeit ist es, der den Charakter wie auch den Mythos einiger italienischer Messer - und Stockschulen geprägt hat. Dieser Wesenszug, der vorwiegend viele süditalienische Fechtschulen des Volkes weitgehend von den anderen Kulturen unterscheidet, unterliegt dem "codice d'onore", dem Ehrenkodex. Auch spielt(e) die oben bereits angesprochene Verschwiegenheit eine große Rolle. Einige dieser Fechtschulen wurden durch Volksschichten mitgeprägt, welche Verschwiegenheit und die Mitgliedschaft zu sogenannten "Inneren Kreisen" voraussetzten. Andere entstammten Zeiten und Umständen, die Vorwiegend die Fähigkeit zur Verteidigung erforderten. Es sind im Geheimen gereifte Künste, geformt durch Erfahrung, Stolz und Blut.
Deshalb ist es ein weiteres Bestreben meiner Schule, eine gewisse ethische Gesinnung zu bewahren. Wobei ich hier nicht von hoher Moral schreibe, wie sie zumeist von Philosophen, Glaubensfanatikern oder kleinbürgerlichen Moralaposteln gefordert wird. Ein Messer ist heute per Definition weniger eine Waffe, es ist vornehmlich ein Werkzeug für Bauern, Hirten, Fischer, Köche, Handwerker, Rettungskräfte, Pfadfinder etc.
Das Messer primär als Waffe zu betrachten, wird den eigentlichen Klingenwaffen, wie wir sie zum Beispiel aus der Antike, dem Mittelalter, der Renaissance, dem Barock oder eben dem Italien des 18/19 Jahrhunderts kennen, nicht gerecht. Selbst die ab dem Mittelalter verwendeten langen Dolche hatten aufgrund ihrer Beschaffenheit (Länge, Klingenform und Parierstange) einen kriegerischen Charakter, der den eines heutigen Gebrauchsmessers oder Kampfmessers bei weitem übertrifft.
Auch waren die neapolitanischen, sizilianischen oder die kalabrischen Duell - bzw. Kampfmesser des 19. Jahrhunderts aufgrund ihrer Form und Beschaffenheit für jede Arbeit ungeeignet. Sie dienten nur dem Duell und der Verteidigung.

Zu denken, das Messer sei heutzutage ein ideales Werkzeug zur Selbstverteidigung, ist aus meiner Sicht etwas unbedacht.
Jede Waffe, die man mitführt und die zuerst gezogen werden muss, dient nur zweitrangig der Verteidigung, vorrangig der Arbeit. Je nach Geisteshaltung dienst sie aber leider auch der Aggression. Liest man zudem die Tageszeitungen genauer, wird entsprechend meist von Überfällen mit dem Messer berichtet, nicht von der Verteidigung damit. Will man sich also mit einem Messer verteidigen, muss auch die Gefahr rechtzeitig erkannt worden sein. Die Zeit die Waffe zu ziehen wäre ansonsten nicht mehr vorhanden. Die eigentliche Selbstverteidigung findet meines Erachtens zuerst und vorrangig durch Vermeidung, Früherkennung und Deeskalation statt. Zweitrangig findet sie mit der leeren Hand statt, mit Handflächenschlägen, Fausthieben und von mir aus auch mit Tritten, Ringen etc. Dies ist die logische Reihenfolge, da Rhetorik und Körperwaffen nicht erst gezogen werden müssen. Sie stehen einem gleich zur Verfügung. Das Messer muss hingegen nicht nur erst gezogen werden, vielmehr verlangt es einmal gezogen absolute Konsequenz. Lässt sich nämlich der Angreifer durch unser Messer nicht abschrecken, sondern geht bereitwillig und eventuell ebenfalls mit einem Messer bewaffnet auf den Kampf ein, entsteht eine Situation, in der sich entscheiden wird, ob man psychisch überhaupt in der Lage und willens ist, einen Menschen gegebenenfalls zu töten - und das ist eine Frage des individuellen Charakters und der persönlichen, ethischen Sichtweise. Das "Spiel", bzw. die einfache Schlägerei ist hier zu Ende. Ab jetzt geht es um Leben oder Tod. Und das ist übrigens der Kernpunkt: Wer glaubt, dass es einfach mal so möglich sei, einen mit einem Messer bewaffneten Angreifer durch gezielte Aktionen lediglich lahmzulegen, ohne diesen eventuell umbringen zu müssen, irrt gewaltig. Es ist in einer solchen Stresssituation, in der das eigene Leben auf dem Spiel steht, äußerst schwer eine ruhiges Gemüt zu bewahren.
Aber erst dises würde einem die nötige Übersicht gewähren, die vor Fehlern schützt, bzw. den Fechter in die Lage versetzt, einen Angreifer gegebenenfalls bewusst zu schonen.
Mein Anliegen ist gewiss nicht das Messer als mögliche Option zur Selbstverteidigung auszuschließen, vielmehr will ich aufzeigen, dass es aus ethischen Gründen, sowie aus Gründen der Vernunft, stets nur die zweite oder die dritte Wahl darstellen sollte. Wir Menschen leiden zudem des Öfteren an Selbstüberschätzung. Zu glauben, ein wenig Training mit einem Übungsmesser, Schutzhandschuhen und Kopfschutz würde der Realität eines echten Messerkampfes auch nur ansatzweise gleichkommen, ist Fantasterei. Und nicht vollends zu berücksichtigen, welch unglaubliche psychische Belastung die Frage nach Leben oder Tod darstellt und wie sie sich auf unser taktisches Verhalten während eines Messerkampfes tatsächlich auswirkt, führt unter Umständen in den Untergang.
Die echte Klinge ist psychologisch betrachtet eine Art technischer Regulator, quantitativ wie auch qualitativ. Ferner ist sie ein automatischer Abstandshalter. Und genau unter diesen beiden Gesichtspunkten ist meine Schule taktisch und technisch aufgebaut.

Roberto Laura ist Lehrer und Erforscher der traditionellen italienischen Messerkampf - und Duellkultur.
In San Remo geboren, kam er 1975 nach Deutschland und lebt heute in Neckarsulm bei Heilbronn. Er ist DER Spezialist, wenn es um Training und Theorie der italienischen Messertraditionen des 19. Jahrhunderts geht.
Der obige Text ist ein Auszug aus seinem Buch "Das Schwert des Volkes"
Zu finden beispielsweise bei amazon: https://www.amazon.de/gp/product/B014FLFAZY/ref=dbs_a_def_rwt_hsch_vapi_tkin_p1_i0